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Mittwoch, 8. Dezember 2021

Rückblick in meine Kindheit

Zerbrochenes Glück

Klein Peter fuhr zum ersten Mal mit der Eisenbahn. Nun genau genommen, war ihm die Eisenbahn nicht neu, denn schon lange zuvor übte er das Fahren mit Eisenbahnzügen, allerdings nur zu Hause mit seinen Holzbausteinen. Die langen Hölzer waren die Wagen und die kleinen Hölzer auf den länglichen waren die Menschen, die fuhren. Jetzt also fuhr er, der Dreijährige, wirklich und tat es mit Selbstverständlichkeit. Manierlich, doch nicht ohne Eigenwilligkeit saß er neben der Mutter und folgte den neuartigen Ereignissen mit wachen Augen. Die Mutter kam bald in ein Gespräch mit einer gegenübersitzenden sympathischen Frau, die mit weißen Haaren seltsam jugendlich wirkte. Sie fahre, wie sie sagte, nach München, um dort lange gehegte Wünsche zu erfüllen. Ihr einziger Sohn habe dort studiert, sei aber im Kriege geblieben. Nun wolle sie alle Orte und Menschen besuchen, mit denen ihr Sohn zu tun hatte und von denen er ihr, die damals weit entfernt von ihm leben musste, viel und mit Liebe erzählt hatte. Sie wisse nicht, wo ihr einziges Kind begraben sei, so könne sie nicht wie andere Mütter wenigstens am Grabe ihm nahe sein. Statt dessen fühle sie sich getrieben, die Orte aufzusuchen, die ihm zuletzt in glücklicheren Tagen etwas bedeutet hatten. Sie sagte das ohne sichtbaren Schmerz, ja mit fast heiterem Lächeln, als ginge sie einem unsichtbaren Wiedersehen mit einem geliebten Menschen entgegen. Indessen war ein junger Mann in amerikanischer Uniform eingetreten und blieb im überfüllten Abteil neben ihnen stehen. Gelangweilt blickte er auf seine Umgebung, wandte sich aber bald mit erwachtem Interesse dem Kinde zu, nicht wissend, wie es anzufangen sei, mit ihm in Kontakt zu kommen. Schließlich zog er ein Etwas aus der Tasche und hielt es dem Kind entgegen. Es war ein kleiner Maßkrug, den er als lustiges Andenken irgendwo erworben haben mochte. Ob er dem Kleinen das Ding schenken dürfe, sagte er wie zur Entschuldigung; er habe einen Bruder drüben in Amerika, der genau so klein sei und fast genau aussehe wie dieses Kind. Lächelnd ließ es die Mutter geschehen, dass er es auf den Arm nahm und mit ihm zu spielen begann. Indes er ihm mit fremdartigen Lauten seine Zuneigung zeigte, war er gewiss auch einem anderen Kinde, seinem kleinen fernen Bruder nahe.

In München angekommen, war Klein Peter nicht mehr davon abzubringen, das Krüglein aus den Händen zu geben. Mit festem Griff trug er es vor sich her, als er neben der Mutter durch die Straßen der Stadt trippelte. Sie vermieden die belebten Hauptstraßen und strebten gemächlich ihrem Ziele zu, gerieten dabei aber unversehens in eine Gegend, die noch sichtlich vom Bombenkrieg gezeichnet war. Hinter eingestürzten Fassaden lag noch der übelriechende Schutt, auf dem da und dort schon Gesträuch und Unkraut wuchs, selbst der Gehweg war mit wildem Geröll bedeckt. Hatte die Mutter geglaubt, abseits vom Menschengetriebe leichter mit dem Kind voranzukommen, so sah sie sich jetzt von den Spuren des vergangenen Krieges gehindert. Ungeduldig versuchte sie, dem Kind das Krüglein aus der Hand zu nehmen, damit es besser auf die Trümmer achte. Doch das Kind wehrte sich, stolperte und sah plötzlich das geliebte Spielzeug zerbrochen. Weinend hielt es nun am Henkel das zerbrochene Gefäß vor sich hin und war auch jetzt nicht zu bewegen, es aus der Hand zu geben. Als sie an einem verfallenen Tor vorübergingen, hielt die Mutter an und sagte begütigend, man könne das Ding einstweilen hier aufbewahren und es später wieder abholen. Dem Kind schien dieser Vorschlag einzuleuchten, denn nach kurzem Zögern suchte es nach einer Stelle, die würdig war, das Krüglein aufzunehmen. Auf einen Sockel, auf dem einstmal eine Marmorstatue gestanden haben mochte, legte er es bedächtig nieder und ging wohlgemut weiter, nicht ohne sich mehrmals nach dieser Stelle umgesehen zu haben. Viele Stunden waren vergangen, als sie den Rückweg von dem Geschäft, das sie als ihr Ziel schließlich erreicht hatten, antraten und müde dachte die Mutter daran, auf kürzestem Weg zum Bahnhof zu gelangen, um die Heimreise anzutreten. Durch Seitenstraßen wanderten sie zurück, doch suchte die Mutter jenes Trümmerviertel zu vermeiden, das sie auf dem Hinweg so sehr behindert hatte. Bald musste sie jedoch bemerken, dass solch düsteren Gegenden offenbar nicht auszuweichen war und wusste obendrein nicht mehr recht, wo sie sich befand, als sie wieder in einen zerstörten Straßenzug einbiegen musste. Doch merkwürdig, das Kind zog die Mutter mit sanfter Gewalt alsbald zu der anderen Seite der Straße hin, zu einem verfallenen Tore, das die Mutter erstaunt nun als die Stelle erkannte, wo das Krüglein abgestellt worden war. Richtig, es war noch an der gleichen Stelle auf dem Sockel, der ehedem einer Marmorstatue gedient haben mochte. Mit Wiedersehensfreude betrachtete das Kind sein halbzerbrochenes Krüglein und schien geneigt, es wieder an sich zu nehmen. Die Mutter dagegen sah den Torso mit unverhohlener Abneigung und meinte, es gehöre nun an diesen Ort und solle hier verbleiben. Vielleicht erschien der verwahrloste Ort auch dem Kind unheimlich und die Scherbe nicht mehr so begehrenswert, jedenfalls ließ es sich bald mit dem Versprechen beruhigen, es werde ein neueres und schöneres Krüglein bekommen. Einträchtig verließen sie die trostlose Stätte und gewannen eine Straße, die von neugebauten Häusern umsäumt war, die verlassenen Trümmer wie einen bösen Traum zurücklassend.

Munter mischten sie sich nun unter die Menschenmenge, die wie von unsichtbarer Hand getrieben, dahinströmte. Niemand bemerkte, dass an einer Ecke eine einsame Frau verharrte, die mit weißen Haaren seltsam jugendlich wirkte. Mit abwesendem Blick sah diese Frau in die Ferne und schien Gedanken nachzuhängen, die ihrem schönen Antlitz einen Zug der Trauer verliehen. Etwas schien zerbrochen an dieser mütterlichen Frau, doch stand auf ihrer Stirn ein Leuchten, jenseits von Schmerz und Trauer.

Alfons Burger (1953)